Ep. 202 - Safety I & II
- norbertaeppli
- 18. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Fehlerkultur in der Medizin: Zwischen Safety-I und Safety-II
„Nicht der Fehler ist das Problem – sondern wie wir mit ihm umgehen.“
In kaum einem anderen Berufsfeld sind die Auswirkungen von Fehlern so gravierend wie in der Medizin. Doch anstatt Fehler um jeden Preis zu vermeiden oder zu verbergen, rückt eine moderne Fehlerkultur das Lernen aus ihnen ins Zentrum. Zwei Konzepte prägen dabei unser Verständnis von Sicherheit: Safety-I und Safety-II. Doch was steckt dahinter – und wie verändert das unsere tägliche Praxis?
Fehlerkultur: Vom Schuldigen zur Systemanalyse
Traditionell war die medizinische Fehlerkultur stark durch eine „blame culture“ geprägt: Wer einen Fehler macht, wird (oft stillschweigend) als unfähig wahrgenommen. Dieses Denken fördert Schweigen und verdeckt systemische Ursachen. Dabei zeigen Studien wie NAP4, dass es fast nie einzelne Personen sind, die schwere Zwischenfälle verursachen – sondern meist komplexe Wechselwirkungen aus Kommunikation, Organisation, Technik und Ausbildung.
Die moderne Medizin versteht daher: Fehler sind unvermeidlich – aber vermeidbar sind ihre Folgen. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen.
Safety-I: Fehler vermeiden
Das Konzept Safety-I ist die klassische Sicht auf Patientensicherheit.
Es fragt: Was ist schiefgelaufen – und wie können wir das in Zukunft verhindern?
Safety-I:
betrachtet unerwünschte Ereignisse retrospektiv
sucht nach Ursachen (oft systemisch, seltener personenbezogen)
zielt auf Standardisierung, Protokolle, Checklisten
ist Grundlage vieler M&M-Konferenzen, CIRS-Meldesysteme, SOPs
Beispiel: Ein ZVK wird in die A. Carotis eingelegt – eine Analyse folgt, die zeigt, dass ein fehlendes sonografisches Verfolgen des Drahts und unklare Rollenverteilung die Fehler begünstigt haben. Daraufhin wird der Fall an einer M&M-Konferenz vorgestellt und das Fachpersonal sensibilisiert.
Safety-I ist wichtig – aber nicht ausreichend. Denn: Es fokussiert ausschließlich auf das, was nicht funktioniert hat.
Safety-II: Erfolgreiche Praxis verstehen
Safety-II ergänzt diese Perspektive und fragt:
Warum läuft eigentlich so oft alles gut – trotz hoher Komplexität und Arbeitslast?
Safety-II:
richtet den Blick auf das tägliche Gelingen
erkennt, dass Mitarbeitende ständig flexibel und kompetent auf Störungen reagieren
fokussiert auf Anpassungsfähigkeit, Resilienz und informelles Wissen
sieht Sicherheit als etwas, das aktiv erzeugt wird – nicht nur durch Vermeidung von Fehlern
Beispiel: Eine Einleitung bei einem Hochrisikopatienten verläuft komplikationslos. Ein Safety-II-Ansatz würde analysieren, wie gute Kommunikation, Erfahrung der Pflege, situative Aufmerksamkeit und kollegiales Backup dazu beigetragen haben – um diese „Erfolgsfaktoren“ zu stärken.
Was bedeutet das für den klinischen Alltag?
Eine reife Fehlerkultur in der Medizin braucht beide Perspektiven:
Safety-I | Safety-II |
Fokus auf Fehler & Ausfälle | Fokus auf Gelingen & Anpassung |
Retrospektive Analyse | Prospektive Unterstützung |
Reaktion auf negative Ereignisse | Stärkung der täglichen Resilienz |
Ziel: Fehlervermeidung | Ziel: Alltagstauglichkeit stärken |
Konkret heißt das z. B.:
M&M-Fälle auch unter dem Gesichtspunkt „Was hat gut funktioniert?“ reflektieren
Simulationstrainings nicht nur auf Krisen, sondern auch auf gutes Teamwork fokussieren
„Second Victims“ nach Fehlern unterstützen statt isolieren
Raum für Reflexion im Team schaffen – nicht nur, wenn etwas schiefgelaufen ist
Fazit: Sicherheit ist kein Zustand – sondern ein aktiver Prozess
Wir dürfen uns nicht nur fragen, warum etwas schiefgelaufen ist – sondern auch, warum es so oft gut geht. Safety-II hilft uns, die Stärken im System zu erkennen und zu fördern. Und genau das ist gelebte Fehlerkultur: Offenheit, Lernbereitschaft und der Mut, auch über das zu sprechen, was gut funktioniert.
Denn: Wer nur aus Fehlern lernt, verpasst die Hälfte der Geschichte.
in diesem Sinne
Danke für die gute Zusammenarbeit :-)



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